Seit Beginn des Corona-Lockdowns im März 2020 bin ich viel emotionaler als je zuvor in meinem Leben. Ich spüre die aufgestaute Wut über die Ungerechtigkeit, die ich zwangsläufig hinnehmen muss. Das ist es, was sechs Jahre der Angriffe durch die Regierung bei mir bewirkt haben.
Vielleicht muss ich ins Gefängnis. Für den Rest meines Lebens – oder, wie mir mein Anwalt sagt, für mehr als hundert Jahre. Aufgrund von Anschuldigungen, die nicht einmal vor Gericht gebracht wurden. Der Zusammenbruch der Rechtsstaatlichkeit ist global, aber für mich ist er inzwischen auch eine persönliche Angelegenheit. In weniger als zwei Jahren hat die philippinische Regierung zehn Haftbefehle gegen mich ausgestellt.
Ich könnte auch zum Ziel eines Anschlags werden. Wäre die Polizei, wäre meine Regierung so dumm, mich ins Visier zu nehmen? Leider ja. Die philippinische Menschenrechtskommission schätzte Ende 2018, dass seit dem Amtsantritt des damaligen Präsidenten Rodrigo Duterte im Jahr 2016 etwa 27.000 Menschen im Zuge des brutalen »Kriegs gegen die Drogen« getötet wurden.
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Stimmt das? Wer weiß das schon. Diese Statistik ist das erste Opfer im Kampf um die Wahrheit in meinem Land. Seit 2018 trage ich eine kugelsichere Weste, wenn ich unterwegs bin.
Online-Gewalt ist Gewalt in der realen Welt. Das haben viele Untersuchungen und zahlreiche tragische Ereignisse rund um den Globus bewiesen. Wie Tausende anderer Journalisten
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, Aktivisten, Oppositionsführer und ahnungsloser Bürger hier und auf der ganzen Welt werde auch ich jeden Tag online angegriffen.
Doch wenn ich morgens aufwache und aus dem Fenster schaue, schöpfe ich neue Kraft. Ich habe Hoffnung. Ich sehe die Möglichkeit, dass dies trotz aller Finsternis auch eine Zeit ist, in der wir unsere Gesellschaften wieder aufbauen können. Wir sollten anfangen mit dem, was direkt vor uns liegt: unserem eigenen Einflussbereich.
Die Welt, die wir einst kannten, wurde stark erschüttert. Jetzt müssen wir entscheiden, was wir erschaffen wollen.
Ich heiße Maria Ressa und bin seit über sechsunddreißig Jahren als Journalistin tätig. Ich wurde auf den Philippinen geboren, wuchs in New Jersey auf und kehrte nach dem College Ende der 1980er-Jahre in mein Heimatland zurück. Meine berufliche Laufbahn begann ich bei CNN, für das ich in den 1990ern zwei Büros in Südostasien aufbaute und leitete. Es waren die glorreichen Jahre von CNN und eine berauschende Zeit für internationale Journalisten. Von meinem Sitz in Südostasien aus wurde ich Augenzeugin dramatischer Ereignisse, die oft Vorboten dessen waren, was später auf der ganzen Welt passierte: aufkommende demokratische Bewegungen in ehemaligen kolonialen Außenposten, der erschreckende Aufstieg des islamischen Terrorismus lange vor dem 11. September 2001, eine neue Klasse demokratisch gewählter Machthaber, die ihre Länder in Quasi-Diktaturen umwandelten, und das verblüffende Versprechen und die Macht der sozialen Medien, die bald eine entscheidende Rolle dabei spielten, dass alles niedergerissen wurde, was mir lieb und teuer war.
Im Jahr 2012 war ich Mitgründerin des philippinischen Online-Nachrichtenportals Rappler. Mein Ziel war es, in meinem Land einen neuen Standard für investigativen Journalismus zu schaffen, der die Plattformen der sozialen Medien nutzte, um Aktionsgemeinschaften für bessere Regierungsformen und stärkere Demokratien aufzubauen. Damals glaubte ich fest an die Macht der sozialen Medien, etwas Gutes in der Welt bewirken zu können. Mithilfe von Facebook und anderen Plattformen waren wir in der Lage, aktuelle Nachrichten zu sammeln, wichtige Quellen und Tipps zu finden, kollektives Handeln im Kampf gegen den Klimawandel und für eine gute Regierungsführung zu mobilisieren sowie das Wissen der Wähler und die Wahlbeteiligung zu verbessern. Wir waren schnell erfolgreich, doch im fünften Jahr des Bestehens von Rappler wurden wir nicht mehr für unsere Ideen gelobt, sondern gerieten ins Visier der Regierung – und das nur, weil wir weiterhin unserer Aufgabe als Journalistinnen und Journalisten nachkamen: die Wahrheit zu sagen und die Mächtigen zur Rechenschaft zu ziehen.
Bei Rappler deckten wir Korruption und Manipulation nicht nur innerhalb der Regierung auf, sondern zunehmend auch in den Technologieunternehmen, die unser Leben bereits beherrschten. Von 2016 an zeigten wir auf, dass an zwei Fronten kriminelles Handeln straflos blieb: im sogenannten Krieg gegen die Drogen von Präsident Rodrigo Duterte und bei Mark Zuckerbergs Facebook.
Ich möchte im Folgenden darlegen, warum der Rest der Welt aufmerksam verfolgen sollte, was auf den Philippinen geschieht. 2021 war das sechste Jahr in Folge, in dem Philippiner von allen Bürgern dieser Welt die meiste Zeit im Internet und in den sozialen Medien verbrachten. Trotz des langsamen Internets wurden 2013 die meisten Videos auf YouTube weltweit von Philippinern hoch- und heruntergeladen. Vier Jahre später waren 97 Prozent der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes auf Facebook. Als ich Mark Zuckerberg 2017 auf einer Konferenz diese Statistik nannte, war er einen Moment lang still.